Donnerstag, 19. Juli 2012

Perspektivbrüche im Fernsehen

Meiner Einer hat da was geguckt, dass nennt sich: „Berlin-Tag und Nacht“.
Mir blieb die Spucke weg.
Voller Perspektivbrüche. Aber sowas von.

Die Erzählperspektive in einem literarischen Text ist mitunter das schwerste und wichtigste, was ein Autor zu meistern hat und weil ich mich in den vergangenen Monaten intensiv mit dem Thema auseinandersetze, fällt  mir jeder Verstoß auch besonders unangenehm auf.
Aber „Berlin-Tag und Nacht“ strotzt so sehr vor Regelverstößen, da muß man nicht hypersensibel für sein, um draufzustoßen.

 Zunächst einmal folgt das Format dem gängigen „Dokusoap-Stil“, der sich in den vergangen Jahren eingebürgert hat. Bei diesem Format werden die Darsteller mit einer einzigen Handkamera gefilmt, die Kamera folgt ihnen überall hin, wie ein Dokumentarfilmer es machen würde. Dies erzeugt einen „live dabei“ Eindruck und macht die Figuren authentisch.
Merkwürdigerweise nur scheinen die Personen bei diesem Spiel den Kameramann nicht wahrzunehmen, der ihnen auch in den intimsten Momenten nicht von der Pelle rückt. Und auch der Zuschauer „vergißt“, dass da ein Dokumentarfilmer zugegen ist, sie wundern sich schon lange nicht mehr, warum da einer einem bis aufs Klo folgt. Die unausgesprochene Verabredung mit dem Zuschauer dabei ist: Der Kameramann existiert nicht, genauso wie in einer Nicht-Doku Kamera und Filmteam nicht existent sind.
Es fällt mir schwer genug mich auf diese Illusion einzulassen.

In „richtigen“ Dokus folgt ein Kameramann echten Menschen bis nach Hause (zum Beispiel in ein Messiehaus). Dabei bleibt ein Moderator (z.B. der Typ vom Trödeltrupp) immer derjenige, der Fragen stellt und Kommentare abgibt und keinen Zweifel daran läßt, dass es sich hier um eine Dokumentation handelt. (Wie „echt“ diese Messies dann sind und wie viel der „Handlung“ manipuliert wurde, lassen wir mal außen vor.)
Bei „Berlin-Tag und Nacht“ wurde aber der Moderator weggelassen, denn es handelt sich um eine Soap, und die wackelige Handkamera verfolgt ohne „Steuerung“ den handelnden Personen.
Ich kenne diesen wackeligen Kamerablick noch aus Filmen, wo es als erzählerisches Mittel eingesetzt wurde, in dem man zeigen wollte, dass die Hauptfigur einer Bedrohung ausgesetzt ist, beobachtet und verfolgt wird. Dieser Blick war dann wie ein „Ich-Erzähler“; der Blick des Mörders oder des Monsters (durch halbhohes Gras).
Ich kann also nicht umhin, ein wenig zu schaudern, wenn die Mädels bei „Berlin-Tag und Nacht“ ins Bett gehen oder in die Badewanne steigen. „Vorsicht, da steht ein Mörder hinter der Tür!“
Aber nun gut.
Mache ich das Spielchen mal mit und versuche den Kameramann zu vergessen.
Aber was ist das?
Da dreht sich der Darsteller um und spricht direkt in die Kamera!
Das darf doch eigentlich niemand. Außer Moderatoren. (Und John Cusack in „High Fidelity“).
Ich bin verwirrt.
Mit wem spricht er jetzt? Mit mir? Dem Kameramann? Dem Zuschauer? Seinen Lieben zuhause wie bei Big Brother wo sie in einer Box „ganz privat“ nach hause telefonieren können?
Ich habe keine Ahnung, aber es gibt ein Muster: immer handelt es sich um eine Art Bekenntnis oder Erklärung für sein Verhalten, wenn der Darsteller sich an die Kamera wendet.
Ist es also ein innerer Monolog, damit der Zuschauer die Motivationen, Bewegründe und Gedanken der Figur versteht? (Weil der Zuschauer ansonsten zu doof ist, um zu kapieren, was abgeht.)
Ich nehme das mal so hin und habe es gerade akzeptiert, da passiert die nächste Unglaublichkeit.
Der Typ bekommt außerdem noch ein Voice over!
Und ich rede hier nicht von dem Voice over eines allwissenden Erzählers, wie in „Wunderbare Jahre“ oder „Desperate Housewifes“ (die mag ich ganz gerne), sondern das Voice over der eigenen Figur.
Was soll das denn?
Er geht einfach die Strasse lang und wir hören seine Gedanken (die er wieder irgendwem erzählt. Sich selbst? Warum wendet er sich nicht an den Kameramann? Der ist doch gleich da neben ihm. Oder warum erzählt er seine Sorgen nicht mir, ich bin doch auch noch da, hier auf meiner Couch.)
Und dann gibt es da noch ein paar schöne Schnitte zu Außenaufnahmen von Berlin mit hipper Musik unterlegt, die mir den Sprung zu anderen Figuren an einem anderen Setting klar machen sollen.
INSERT Landschaftsbeschreibung hier.
Ich bin begeistert.



Schreibaufgabe:

Stenografiere eine Folge von „Berlin-Tag und Nacht“.
Verfasse das ganze dann als Text in Prosa.
Achte darauf, dass du alle Perspektiven richtig hinbekommst: Den Dritte Person limited removed omniscient Erzähler, gemixt mit Ich-Personelle-Establishing-point-of-view voice overs.
Wenn dein Text fertig ist, streiche alle Brüche in der Erzählperspektive an und jeden Übergang vom Beobachtenden Erzähler zum Ich-Erzähler in knallig rot.
Rahme deinen Text ein, hänge ihn übers Bett und nenne das Bild „Transgressive Fiction Trash“.



Zusatzaufgabe:
Finde für deinen Text einen Verleger.

Donnerstag, 5. Juli 2012

To heck with suspense !

Das Literaturkaninchen (also Meiner Einer) ist beim Lesen über einen Schreibtip von Mr Kurt Vonnegut gestolpert:


Give your readers as much information as possible as soon as possible. To heck with suspense. Readers should have such complete understanding of what is going on, where and why, that they could finish the story themselves, should cockroaches eat the last few pages.”


Bagombo Snuff Box: Uncollected Short Fiction (New York: G.P. Putnam’s Sons 1999)


Da muß ich mir doch jetzt glatt mal die Äuglein rubbeln! To heck with suspense !?!
Und ich kann nicht umhin, mich zu fragen: Was würde der Altmeister Alfred Hitchcock dazu sagen? Ihm schreibt man zu, den Begriff des Suspense erfunden oder zumindest geprägt zu haben. Suspense ist ein Begriff für Spannung und meint eine Hinhaltetaktik, das absichtliche Zurückhalten von Informationen für den Leser oder Zuschauer und das geschickte Hinstreuen von Andeutungen, die auf eine bedrohliche Situation hindeuten.
Alfred Hitchcock galt als Meister des Suspense. Im englischen gilt Suspense sogar als Genre, einer bestimmten Subart des Thrillers. Ein ganzes Genre, das auf dem Prinzip des Suspense aufbaut.
Wie kann Kurt Vonnegut es also wagen?
So it goes.
Er hält nicht viel davon, den Leser künstlich lange im Dunkeln tappen zu lassen und immer nur mit kleinen Infostückchen zu füttern. Er meint, man solle dem Leser so früh wie möglich, so viel wie möglich an Informationen geben, über das wo und wieso, dass der Leser ganz klar vorausahnen kann, wo die Geschichte hinführt.
Hm.
Er scheint kein Fan von überraschenden Wendungen, offenen Fragen, nagenden Zweifeln, felljuckender Spannung zu sein.
Seine Empfehlung scheint dahinzuführen, dass man eine Situation und Konflikt ganz klar aufbaut und dann den Stein ins Rollen bringt, so dass Protagonist und Leser nichts anderes können, als den Berg herunterzurennen um dem rollenden Stein zu entkommen. Unausweichlich auf das Ziel zu.
Joa, das kann auch spannend sein.
Ich weise Herrn Vonnegut aber darauf hin, dass seine eigenen Geschichten alles andere als geradlinig sind.
Ich hätte nie im Leben „Slaughterhouse Five“ zuende schreiben können, anhand der Informationen auf den ersten Seiten, wenn Kakerlaken die letzen Seiten weggemampft hätten.
Nie im Leben.
(Was hoffentlich nicht passiert. Grad noch mal nachgesehen. Die Bibliothek im Kaninchenbau ist sehr sauber, sehr gut gefüllt und sehr sehr kakerlakenfrei. Wenn hier einer Bücher knabbert, dann bin ich das!)
What the heck meint Vonnegut also?


„Give your reader as much information as soon as possible.” - Vonnegut


versus


 “Suspense is like a woman. The more left to the imagination, the more the excitement.” – Hitchcock


Wer hat Recht?
Ich denke, ich schlag mich auf die Seite von meinem alten Kumpel Hitchi.
Der hatte schließlich auch mehr Ahnung von Weibern …