Samstag, 4. Mai 2013

Teil 2: Third Person Objective Narrator

Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil II


In der Erzählhaltung des Third Person Objective Narrator erzählt der Erzähler die Geschichte aus der Sicht der Figur, aber er ist nicht mit der Figur verschmolzen wie beim „Ich-Erzähler“, sondern er schreibt als „er“ oder „sie“. Third Person Erzähler können keinen Blick von außen auf die Figur werfen, es sei denn, sie betrachtet sich selbst in einem Spiegel.

Der Third Person Narrator hat Einblick in die Gedanken der Figur, kann also „dachte er/ wünschte sie“ schreiben; aber er beschreibt alles ausschließlich durch die Augen der Figur, d.h. er kann nur beschreiben was die Figur sieht und erlebt, nichts was sich an anderen Orten oder Zeiten abspielt.

Er darf seine Figuren auch nie mit einer Beschreibung benennen wie „Der Zauberlehrling“ oder „Die Dämonenjägerin“ sondern muss „Buffy“ sagen oder „sie“, denn er darf als Erzähler nicht werten oder kommentieren.

Beispiel:


Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. »Was ist mit mir geschehen?«, dachte er.



Merkst du wie Kafka versucht, alles aus der Sicht der Figur zu beschreiben? Er beschreibt, wie Gregor Samsa an sich selber herunterguckt, alles ist durch seine Augen gesehen, es gibt keine „Kamera“ die von außen auf die Figur guckt. Das ist für diese Geschichte ungeheuer wichtig, denn die Frage ist, ob alles nur in Gregors Einbildung stattfindet oder ob er sich wirklich auf irgendeine magische Art und Weise eines Morgens in einen Käfer verwandelt hat. Ein objective Narrator, der keinen Einblick in die Gedanken einer Figur hat, hätte also diese Geschichte nicht erzählen können.


Anderes Beispiel:
Astrid Lindgren: „Kalle Blomquist“

„Blut! Daran ist nicht zu zweifeln!“ Er starrte durch das Vergrößerungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen Mundwinkel und seufzte. Natürlich war es Blut. Was war denn auch sonst schon zu sehen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte? […] Er hob widerstrebend seinen Blick von dem Blutfleck und schaute aus dem Fenster. Die Hauptstraße lag träumend und im tiefsten Frieden in der Sommersonne. Die Kastanien blühten. Es war keine lebendes Wesen zu sehen außer der grauen Katze des Bäckers, die auf der Kante des Bürgersteiges saß und sich die Pfoten leckte. Nicht dass allergeübteste Detektivauge konnte etwas entdecken, was darauf hindeutete, dass ein Verbrechen begangen worden war. Es war wirklich ein hoffnungsloses Beginnen, in dieser Stadt Detektiv zu sein! Wenn er groß war, würde er, sobald sich eine Möglichkeit bot, in die Londoner Slumbezirke ziehen. Oder vielleicht besser nach Chikago?
Der Alte wollte, dass er im Geschäft anfangen sollte. Im Geschäft! Er ! Ja, das könnte denen so gefallen, allen Mördern und Banditen in London und Chikago!


Auch hier wieder: Der Blick aus dem Fenster auf die Strasse, durch das Vergrößerungsglas auf den Blutfleck, alles ist aus der Sicht von Kalle beschrieben. Der Leser sieht nur, was Kalle sieht, erfährt nur, was Kalle erlebt. Der Leser lauscht außerdem Kalles Gedanken. Das ist für den Leser so natürlich, dass es keinerlei Kennzeichnung mit Anführungszeichen oder dem ständigen Zusatz „dachte er“ braucht. 

Noch ein Beispiel:
Der Goldene Kompass. His-Dark-Materials 01

An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen, schlichen Lyra und ihr Daemon durch den dämmrigen Speisesaal. Die drei großen Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen, waren bereits gedeckt, die langen Bänke für die Gäste augestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im letzten Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur offenen Küchentür zurück, und als sie dort niemanden sah, stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf. Er war mit Gold statt mit Silber gedeckt und statt der Eichenbänke standen dort samtgepolsterte Mahagonistühle.
Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte vorsichtig mit dem Fingernagel an das größte Glas. Der helle Klang war im ganzen Saal zu hören.
„Das ist nicht der Ort für solche Späße“, flüsterte ihr Daemon. „Reiß dich gefälligst zusammen.“ […] „Worüber sie heute wohl reden werden?“, sagte Lyra oder vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die Frage beenden konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen. „Hinter den Sessel – schnell!“, flüsterte Pantalaimon und schon war Lyra aufgesprungen und kauerte hinter der Lehne. Der Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in der Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war …
Die Tür ging auf und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra konnte seine Beine sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen und schwarzglänzenden Schuhen – ein Diener also.


Dieses Beispiel ist ein wenig schwieriger, denn die Beschreibungen klingen fast so, als könnten sie auch ein Blick von außen auf die Figur sein. Bei genauerem Hinsehen merkt man aber, dass sie das nicht sind. Der Autor Phillip Pullmann hat streng darauf geachtet, nur das zu beschreiben, was von der Figur Lyra auch gesehen und wahrgenommen werden kann. (Die Hosenbeine des Dieners z.B.)



Der Erzähler beschreibt uns also die Ereignisse anstatt aus der neutralen Haltung eines Beobachters, aus der Sicht einer Figur. Als solcher limitiert er sich (und wird deshalb auch manchmal „Third person limited“ genannt), denn er kann nur wiedergeben, was die Figur sieht, spürt und denkt, nichts was an anderen Orten oder außerhalb der Wahrnehmung der Figur, die gerade der Perspektivträger ist, stattfindet.

Als solcher kann er also nicht schreiben „Die Tür ging auf und John betrat den Raum“, wenn Marie mit dem Rücken zur Tür sitzt, sondern er müsste schreiben: „Marie hörte wie die Tür geöffnet wurde und drehte sich um. Sie sah, wie John den Raum betrat.

Die Figur, aus deren Sicht gerade alles beschrieben wird, kann allerdings wechseln. So kann das eine Kapitel aus der Sicht des Mörders, das andere aus der Sicht des Opfers und wieder ein drittes aus der Sicht des Detektivs sein.

Aber Achtung: Die Figur, aus dessen Sicht erzählt wird, darf niemals von einem Satz auf den anderen wechseln, sondern nur von Kapitel zu Kapitel; maximal von Szene zu Szene, aber nur wenn der Wechsel klar gekennzeichnet ist. Ein falscher oder nicht gekennzeichneter Wechsel führt zu sog. „Headhopping“ und ist ein häufiger Anfängerfehler, der Verlagslektoren übel aufstößt und den Leser verwirrt.


Um seinen Text auf Richtigkeit zu überprüfen, gibt es einen Trick:

Man ersetzt einfach alle „er“ durch „ich“. 
Das ist in der „Third Person objective Erzählhaltung“ beinahe reibungslos möglich. Wenn Deiner Einer nach dem Umstellen ein Satz oder eine Beschreibung auffällt, die ein „ich“ so nicht hätte sagen können, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Perspektivbruch und muss gestrichen oder umgeschrieben werden.

Es empfiehlt sich, vorher festzulegen welche Figuren als Perspektivträger fungieren sollen und sich in der Auswahl zu limitieren, evtl. sogar bei nur einer einzigen Person (üblicherweise der Hauptfigur) zu bleiben.

Beachte: Wenn deine Perspektivfigur auf eine andere trifft, kann sie nicht wissen, was diese denkt und fühlt und ist auf äußere Merkmale wie Mimik und Gestik angewiesen und auf Vermutungen. Das bedeutet, dass Kalle Blomquist nicht wissen kann, warum seine Freundin Liese - Lotte heute so gereizt ist. Ist sie sauer auf ihn oder hat sie nur Hunger?
Und natürlich kann deine Perspektivfigur sich irren.
Der freundlich lächelnde Onkel Einar kann doch nie und nimmer in ein Verbrechen verwickelt sein, oder?
Falsch gedacht, Kalle ! Er ist ein Juwelendieb und Betrüger !

Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 2




Obwohl diese Erzählhaltung also personal (aus der Sicht einer Figur) ist, ist der Erzähler dennoch vorhanden und „neutral“, denn er beschreibt in einem nüchternen Ton wie ein objective Narrator. Daher nenne ich diese Erzählhaltung „Third person objectiv“. (Wie es klingt, wenn der Erzähler seine Objektivität aufgibt, zeige ich euch beim nächsten Mal, beim Third Person Subjektiv.)

In der objektiven Variante herrscht eine gewisse Distanz zum Erzählten, was den Vorteil hat, dass „Wegwerf- Perspektivträger“ möglich sind (die in einer Szene auftauchen und in der nächsten bereits wieder sterben; das widerspricht meinem Rat oben, sich auf wenige Figuren zu limitieren, wird aber im Bereich Thriller häufiger gemacht). Vor allem Romane mit actionlastigen Plots oder mit Settings die in anderen Welten oder Zeiten spielen sind häufig in dieser Perspektive. Der Identifikationsfaktor mit den Figuren ist nicht so hoch, wie in anderen Erzählhaltungen; aber dennoch (oder gerade deswegen?) ist diese Erzählhaltung bei vielen Lesern sehr beliebt.



Zusammenfassung: „Third Person objective“



-        Objektiver Erzähler, der aus der Sicht der Figur erzählt. „er/sie“

-        keine Außenansicht auf die Figur.

-        Hat Einblick in Gedanken oder Gefühle, gekennzeichnet mit „dachte er/ wollte er/ wünschte er ect.“, aber nur von einer Figur zur Zeit.

-        Erzähler versteckt; kommentiert/wertet nicht, darf Leser nicht direkt ansprechen

-        Ausschließlich „reliable“ Erzähler

-        Ist nicht frei in Zeit und Raum, kann nur über Ereignisse berichten, die die Figur erlebt, ist an eine Figur gebunden.

-        „Er“ kann problemlos durch „ich“ ersetzt werden. (Trick zum überprüfen)

-        Vorteil: Distanz zum Erzählten, „Wegwerf-Charaktere“ möglich, geeignet für actionlastige Plots und fantastische Settings.

-        Darf seine Figuren nie mit einer Beschreibung nennen(nicht "die Dämonenjägerin", sondern "Buffy")

-        Fordert szenisches erzählen.



Hausaufgabe:

Nehme eines der obigen Textbeispiele oder einen eigenen Text und schreibe ihn um in die in Teil I beschriebene Erzählhaltung des „Objective Narrators“. Beachte, dass du dabei keinerlei Gedanken und Gefühle der Figuren beschreiben darfst, sondern alles nur neutral von außen beobachten.
Wo stößt du auf Schwierigkeiten? 
Wie kannst du die für den Leser wichtigen Informationen anders unterbringen? 

Übung Nr 2:
Schreibe eine Szene, in der Kalle Blomquist auf eine andere Figur trifft, dieses mal als "Third Person objective".
Liese-Lotte ist hungrig und gereizt und Onkel Einar ist in Wahrheit gar nicht Onkel Einar, sondern ein Juwelendieb und Betrüger.
Wie gestaltet sich das Zusammentreffen dieser Figuren aus der Sicht von Kalle - nur mit Einblick in Kalles Gedanken nicht in die der anderen Figuren?



 




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