Montag, 10. Februar 2014

Tempus Fugit Teil III:


oder: Mündlicher Sprachgebrauch

Pfote aufs Herz: Wer hat die Hausaufgaben vom letzten Mal gemacht? Keiner? Ts... 
Hättest du sie gemacht, und den Abschnitt aus „Die Tribute von Panem“ in die Vergangenheitsform des epischen Präteritums gesetzt, dann würde das Ergebnis so lauten:

„Vor Prims Knien hockte der hässlichste Kater der Welt und hielt Wache. Eingedrückte Nase, ein halbes Ohr weg, Augen von der Farbe eines fauligen Kürbisses. Prim hatte ihn Butterblume genannt, sie beharrte darauf, dass das schlammgelbe Fell exakt so aussah wie die leuchtende Blume. Der Kater hasste mich. Misstraute mir zumindest. Obwohl es Jahre her war, erinnerte er sich bestimmt immer noch daran, wie ich versucht hatte, ihn in einem Kübel zu ertränken, als Prim ihn mit nach Hause gebracht hatte. Ein mageres Kätzchen, den Bauch voller Würmer, das Fell ein Tummelplatz für Flöhe. Das Letzte, was ich damals hatte gebrauchen können, war ein weiteres Maul gewesen, das gefüttert werden wollte. Doch Prim hatte so lange gebettelt und geweint, dass wir ihn einfach hatten behalten müssen. Es war gut gegangen. Meine Mutter hatte ihn von den Parasiten befreit und er war der geborene Mäusejäger. Fing gelegentlich sogar eine Ratte. Manchmal, wenn ich Wild ausnahm, warf ich Butterblume die Innereien hin. Dafür fauchte er mich nicht mehr an.“

Und?
Klingt ein wenig doof an manchen Stellen, oder?
Deswegen rät das Literaturkaninchen dir, es nicht so stehen zu lassen.
Wie? Das Kaninchen hat doch gesagt, so sei das richtig und wenn man im Präteritum schreibt, dann muss man alles Vorvergangene ins Plusquamperfekt setzen. Und das haddu gemacht.
Ja, schon. Aber Deiner Einer vergisst etwas dabei.
Nämlich, dass wir es bei „Die Tribute von Panem“ mit einem Ich-Erzähler zu tun haben.
Und ein Ich-Erzähler hat eine eigene Stimme, sie ist wie eine Figur, die uns in ihrer eigenen Sprache mit all ihren Eigenarten und Besonderheiten ihre Geschichte erzählt. Und ist daher viel dichter an der gesprochenen Sprache dran, als ein anderer Erzähler.

Ein Ich darf also eine Zeit verwenden, die grammatikalisch evtl. falsch ist, die aber besser klingt.
So würde ich den oberen Abschnitt, wenn man ihn ins epische Präteritum, also in die Vergangenheitsform als Standarterzählzeit versetzen will, so schreiben:

„Vor Prims Knien hockte der hässlichste Kater der Welt und hielt Wache. Eingedrückte Nase, ein halbes Ohr weg, Augen von der Farbe eines fauligen Kürbisses. Prim hatte ihn Butterblume genannt, sie beharrte darauf, dass das schlammgelbe Fell exakt so aussah wie die leuchtende Blume. Der Kater hasste mich. Misstraute mir zumindest. Obwohl es Jahre her war, erinnerte er sich bestimmt immer noch daran, wie ich versucht hatte, ihn in einem Kübel zu ertränken, als Prim ihn mit nach Hause brachte. Ein mageres Kätzchen, den Bauch voller Würmer, das Fell ein Tummelplatz für Flöhe. Das Letzte, was ich damals brauchen konnte, war ein weiteres Maul, das gefüttert werden wollte. Doch Prim hatte so lange gebettelt und geweint, dass wir ihn einfach behalten mussten. Es ging gut. Meine Mutter hatte ihn von den Parasiten befreit und er war der geborene Mäusejäger. Fing gelegentlich sogar eine Ratte. Manchmal, wenn ich Wild ausnahm, warf ich Butterblume die Innereien hin. Dafür fauchte er mich nicht mehr an.“

Was habe ich gemacht? Ich habe es der ursprünglichen Version stellenweise wieder angeglichen, die das Perfekt verwendet. Warum? Weil wir Deutschen im mündlichen Sprachgebrauch oft lieber das Perfekt verwenden, auch wenn das Plusquamperfekt angebracht wäre. Wir Deutschen finden nämlich unsere eigene Sprache ziemlich umständlich. Was dazu führt, dass wir sie im mündlichen Sprachgebrauch nicht mehr grammatikalisch korrekt verwenden.
Und deine Figuren auch nicht.
Das bedeutet, dass deine Figuren in der direkten Rede (in Dialogen) das Perfekt verwenden sollten, selbst wenn die Erzählung im
(epischen) Präteritum geschrieben ist.
Und alle Ich-Erzähler auch. (Einschließlich des Omniscient Overt Narrators!)
Die Verwendung der Zeitformen ist nämlich ein wichtiges Werkzeug um die Stimme eines Erzählers zu modulieren und ihm Persönlichkeit zu verleihen.
Das könnte dann nämlich zum Beispiel so klingen:


„Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen. Und da sieht man, wie ein Mensch sich verändern kann. Weil heute bin ich die Ruhe in Person. Und müsste schon etwas Besonderes passieren, dass ich mich noch einmal aufrege. Die Zeiten sind vorbei, wo mich alles gleich aus der Fassung gebracht hat. Hör zu, warum soll jedes Blutbad mein persönliches Bier sein? An und für sich sage ich da schon lange, sollen sich die Jungen drum kümmern, quasi Credo. […] Für ein Kind kann das auch nicht gut sein, immer Hin und her, und ich glaube, die Tochter vom Kressdorf hat die Autobahn schon für ihr Spielzimmer gehalten. Aber ich muss zugeben, das ist einmal ein nettes Kind gewesen. Nicht wie heute die Kinder allgemein, also kein bitte, kein Danke, kein Grüssgott. […] Jetzt weil ich gerade sage Säuglingsstation. Die Frau vom Kressdorf ist Ärztin gewesen, die hat ihr eigenes Institut gehabt, eine kleine Etagenklinik im 1. Bezirk.“

In diesem kurzen Abschnitt purzeln die Zeiten munter durcheinander, gerade so, wie dem Erzähler die Schnauze gewachsen ist. Und das ist auch gut so.
Noch einmal zusammengefasst:

Das Präteritum ist die natürliche Erzählzeit (Stichwort: Episches Präteritum). Rückblenden werden ins Plusquamperfekt gesetzt, aus dem der Autor sich in einer längeren Rückblende nach ein paar Sätzen ins Präteritum zurückmogelt, um das sperrige "hatte" zu vermeiden. Die Figuren verwenden in der wörtlichen Rede Präsens und Perfekt.


YA und Thriller werden heutzutage häufig im Präsens geschrieben, was den Effekt hat, dass die Leser sich „live dabei“ fühlen. Rückblenden werden ins Perfekt gesetzt, kein Mogeln notwendig. Ereignisse, die noch länger in der Vergangenheit liegen, können dann grammatikalisch korrekt im Plusquamperfekt wiedergegeben werden, was den Vorteil hat, dass man eine Vor-Vorvergangenheit darstellen kann.
Figuren verwenden in Dialogen ebenfalls Präsens und Perfekt.

Ich-Erzähler verwenden Grammatik, die näher am mündlichen Sprachgebrauch liegt.