Freitag, 7. Juli 2017

Mystery, Suspense und Dramatic Irony - 3 Spannungstechniken

Mystery, Suspense und Dramatic Irony

 

Mein letzter Post über Prologe und Epiloge hat mich auf etwas gebracht. Wie kann es sein, dass man einen Teil der Handlung (im Prolog) vorweg nimmt und dennoch — oder gerade dadurch — Spannung ensteht?
Ich habe ein wenig nachgeforscht und möchte euch hier meine Erkenntnisse vorstellen:
Es gibt 3 Arten von „Informationstechnik“, die ihr in jeder Art von Geschichte einsetzen könnt. Die Frage in jeder Story ist ja, wieviel erzähle ich dem Leser und wieviel halte ich ihm vor? Der Leser bleibt gemeinhin aus zwei Gründen bei der Handlung:   Neugierde auf den weiteren Verlauf der Handlung  und Identifikation mit der Hauptfigur. 
 
Nun könnt ihr den Leser auf 3 verschiedene Arten bei der Stange halten:

Mystery = Der Leser weiß weniger als die (Haupt-)Figur
Suspense = Der Leser weiß genauso viel wie die (Haupt-)Figur
Dramatic Irony = Der Leser weiß mehr als die (Haupt-)Figur

(*Diese Begriffe sind nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen englischsprachigen Genres, oder mit anderen Techniken aus dem Drehbuchbereich ect. Sie meinen hier ein Stilmittel, wie Informationen dem Leser gegeben (oder vorenthalten) werden und sind angelehnt an Robert McKee Verwendung der Begriffe. Ihr könnt gerne eigene Worte dafür finden.)

Mystery


Der Leser weiß weniger als die Hauptfigur.
Das bedeutet, der Erzähler hält dem Leser mit Absicht Informationen vor, macht nur Andeutungen (vor allem zur Hintergrundgeschichte) und ruft auf diese Weise viele Fragen im Kopf des Lesers hervor. Mit diesem Stilmittel „Mystery“ spricht man vor allem die Neugierde des Lesers an. Dadurch dass die Hauptfigur mehr weiß als der Leser, wird der Leser oft im Unklaren gelassen, was die Hauptfigur plant, wie sie zu einer Erkenntnis oder einem Hinweis gelangt ist, was in der Vergangenheit geschehen ist oder welche Leichen sich sonst noch im Keller verbergen. Durch Auslassungen und absichtliches Verschweigen wird der Leser auf falsche Fährten gesetzt und das Sammeln von Informationen, die wie Puzzleteile zusammengesetzt werden müssen, bereiten dem Leser Vergnügen und spannen ihn auf die Folter. Oft dreht sich die Handlung um ein einziges großes Geheimnis und die Aufdeckung am Ende ist ein großer Twist.
Am deutlichsten wird dies natürlich im Krimi angewandt, wo der Meisterdetektiv längst einen Verdächtigen hat, dem Leser aber nichts von diesem Verdacht mitteilt und er selber anhand der gesammelten Beweise mitraten muss, bis es zur Auflösung am Ende bei der Dingfestmachung des Täters kommt. Erst dann verrät der Meisterdetektiv seinen Lesern, wie er zu seiner brillanten Schlussfolgerung gekommen ist.
Aber auch in anderen Genres kann die „Mystery“-Technik angewendet werden. So steht in Spannungs-Romanen häufig der Satz: „Er hatte einen Plan!“, ohne dem Leser die Details dieses Plans zu erläutern. Man liest weiter, um herauszufinden, was die Hauptfigur geplant hat und wie sie sich aus ihrer scheinbar ausweglosen Situation hinausmanövriert.
Diese Technik benutzt man häufig bei Ich-Erzählern, die dem Leser aus Scham oder Hinterlist Fakten aus ihrer Vergangenheit vorenthalten, beim Allwissenden Erzähler oder Erzählern, die aus der Rückschau heraus berichten, und ganz besonders natürlich beim "Unzuverlässigen Erzähler".
Die Leser im Dunkeln zu lassen und die Figuren mehr wissen zu lassen als den Leser, ist eine sehr gute Taktik, um zu ködern und neugierig zu machen.

Suspense


Der Leser weiß genauso viel wie die Hauptfigur.
Dies ist wahrscheinlich die am häufigsten gewählte Spannungstechnik und aus gutem Grund, denn wenn Leser und Hauptfigur auf demselben Wissensstand sind, kann sich der Leser am besten mit der Hauptfigur identifizieren. Die Spannung in der Handlung entsteht aus der Frage „Was wird als nächstes passieren?“ und lässt den Leser mitfühlen und ihn sich fragen, wie er selbst sich in dieser Situation verhalten würde. Der Meisterdetektiv beeindruckt uns durch sein Wissen, aber wir können uns nie ganz mit ihm identifizieren, deswegen distanziert die Mystery- Erzähltechnik, wohingegen „Suspense“ uns ganz und gar in die Schuhe der Hauptfigur versetzt. Diese Form eignet sich besonders für Ich-Erzähler (im Präsens) oder die personale Erzählform (im Präsens). Jedes Ereignis und jede Wendung kommt für die Figur genauso überraschend wie für den Leser. Plötzliche dramatische Ereignisse entfalten hier die größte Wirkung und am meisten Mitgefühl.
Sobald aber eine weiterer Perspektivträger außer der Hauptfigur hinzukommt, z.B. durch zwei sich abwechselnde Figuren (wie häufig in Liebesgeschichten oder Thrillern), begibt der Leser sich bereits in die Haltung der „dramatic Irony“ (im deutschen auch tragische Ironie genannt). Denn durch den zusätzlichen Blickwinkel weiß der Leser stets mehr als die einzelne Figur.

Dramatic Irony


Der Leser weiß mehr als die Hauptfigur.
Das bedeutet, dass Leser in den Ereignissen der Figur voraus sind oder sogar den Ausgang der Handlung kennen. Während in „Suspense“ der Leser sich über den Fortgang der Handlung wundert und sich Sorgen um das Wohlergehen der Hauptfigur macht und sich fragt, wie das alles endet, so bangt der Leser in der Haltung der „dramatic irony“ bei dem Wissen um das drohende Schicksal und hat Mitleid für die Hauptfigur. Der Leser möchte beim Lesen wie im Kasperletheater am liebsten der Figur zurufen: „Tu das nicht!“, während er ohnmächtig zusehen muss, wie die Hauptfigur der Todesgefahr geradewegs in die Arme läuft.
Was zunächst einmal paradox klingt (dem Leser zu sagen, was als nächstes passiert oder wie alles endet) sorgt aber gerade durch dieses Mitwissen zu einem besonders hohen Spannungsgrad, weswegen diese Technik häufig in Thrillern aber auch in Dramen/Tragödien Anwendung findet.
Z.B. kann der Erzähler seine Leser wissen lassen, dass die Figur einen Fehler begeht, er kann beschreiben, was gleichzeitig an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit geschieht und was die Bemühungen des Hauptfigur zunichtemachen wird, er kann die Leser in die Pläne des Antagonisten einweihen oder ihm Blicke in die Gedanken des Love Interests gewähren und so verraten, ob der Angebetete Gefühle für unsere Hauptfigur hegt oder nicht. Er kann die Handlung vorspulen und in einem Flashforward dem Leser Einblicke auf zukünftige Ereignisse gewähren oder dem Leser alles über den Gegenspieler verraten, was die Hauptfigur nicht weiß. Dafür braucht es nicht unbedingt einen Allwissenden Erzähler oder einen Ich-Erzähler, der im Rückblickberichtet, auch wechselnde Perspektivträger oder nicht-lineares Erzählen versetzt den Leser in „dramatic irony“.
Diese Technik wird schon seit vielen Jahrhunderten benutzt, schon in „Oedipus Rex“ befanden sich die Zuschauer in einer Haltung der tragischen Ironie, denn die Sage, auf der das Stück beruht, war so bekannt, dass alle im Zuschauerraum wussten, dass Oedipus seine Mutter schwängern und seinen Vater ermorden wird. Die Spannung entstand daraus, sich zu fragen, wie es dazu kommen konnte.
Wie?“ und „Warum?“ halten die Neugierde genauso bei der Stange, wie das Grauen um das Wissen, dass etwas Schlimmes geschehen wird.

Alfred Hitchcock erklärt den Unterschied in der Wirkung mit einem berühmten Beispiel — der Bombe unter dem Tisch — in seinem Gespräch mit Francois Truffaut*:

„Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts Besonderes passiert, und plötzlich, Bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht. (..) Die Bombe ist unter dem Tisch und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie jemand sie dort hingelegt hat. Das Publikum weiß, dass die Bombe um ein Uhr explodieren wird und jetzt ist es 12 Uhr 55 - man sieht eine Uhr. (…) Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Hochspannung.“ -  Francois Truffaut: "Mr Hitchcock, wie haben Sie dasgemacht?“*-Seite 64
(*Alfred Hitchcock nennt den Unterschied hier „Surprise“ und „Suspense“.)

Diese Technik wird aber auch viel im Bereich der Komödie eingesetzt, bei der der Zuschauer sich klüger als die Hauptfigur fühlen darf, und gerade durch seinen Wissensvorsprung — „Tu das nicht, Kasper!“ — zum Lachen bringt. Der Zuschauer oder Leser erhebt sich über die Figur und sieht die Blindheit des Charakters gegenüber seiner eigenen Grenzen und Fehler und darf über die Figur lachen. Gerade weil wir wissen, was kommen wird, lachen wir schon, bevor es eintritt.

Wie also sieht dieselbe Szene aus in Mystery, Suspense und dramatic irony?


Gehen wir einmal eine Beispielszene durch, wenden wir die 3 Spannungstechniken an und schauen wie sie dieselbe Szene anders wirken lassen.
Stellen wir uns vor, wir haben als Hauptfigur einen Polizisten, der zu einem Einsatzort gerufen wird, einem großen Haus bei Nacht, in dem sich ein Axtmörder befinden soll.
Der Polizist ist gewarnt und betritt vorsichtig den Flur, von dem rechts und links viele Türen abzweigen.

Beispiel Mystery
Mit der Spannungstechnik Mystery würden wir zeigen, wie die Kamera dem Polizisten folgt, ganz nah hinter ihm oder über seine Schulter schauend. Wir sehen, wie er vorsichtig den Flur betritt, lauscht, ob er etwas hört, seine Taschenlampe auf eine offenstehende Tür und die Schwärze dahinter richtet.  Auf dem Boden vor der offenen Tür sehen wir eine Blutspur, die in das dahinterliegende Zimmer führt. Wir vermuten, der Axtmörder befindet sich dort, daher schlägt unser Herz schneller, als der Polizist sich der Tür nähert. Er richtet seine Waffe auf die Türöffnung und ruft: “Kommen Sie heraus, ich weiß, dass Sie da drin sind!“ Aber während er das noch tut, schleicht er leise am Türrahmen vorbei, er betritt gar nicht das Zimmer, sondern ein anderes schräg gegenüber. Er duckt sich, legt an und erschießt den Axtmörder, der sich im Wandschrank versteckt hatte.
Als seine Kollegen kommen um die Leiche abzuholen fragen sie ihn: “Woher haben Sie gewusst, wo der Mörder sich versteckt?“ Und unser Held antwortet: „Ich wusste sofort, dass er mir eine Falle stellen wollte, als ich sah, dass das auf dem Boden Ketchup war und kein Blut.“

Beispiel Suspense
Mit der Spannungstechnik Suspense würden wir ebenfalls zeigen, wie die Kamera dem Polizisten folgt, ganz nah hinter ihm oder über seine Schulter schauend, vielleicht sogar mit einer wackeligen Handkamera durch seine Augen. Wir sehen, wie er vorsichtig den Flur betritt, lauscht, hören seinen aufgeregten Atem. Der Schein seiner Taschenlampe huscht hin und her. Es gibt so viele Türen und der Axtmörder könnte überall sein. Nach und nach probiert der Polizist alle Klinken, aber die Türen sind verschlossen. Der Polizist nähert sich einer offenstehenden Tür und der Schwärze dahinter, die der Schein der Taschenlampe kaum durchdringt. Er richtet die Waffe auf das Zimmer und wird beim Eintreten prompt von einer schwarzen Gestalt attackiert, die mit einer Axt nach ihm schlägt. Ein Kampf entbrennt. Der Polizist kann mit Mühe und Not einen Schlag abwehren, seine Schläfe blutet, aber er schafft es, den Angreifer zu überwältigen. Dann ruft er seine Kollegen und lässt den bewusstlos geschlagenen Axtmörder verhaften.

Dramatic Irony
Mit der Spannungstechnik Dramatic Irony würden wir die Kamera dagegen vielleicht in dem Haus positionieren. Wir stehen hinter dem Axtmörder, sehen, wie er hinter der Tür lauert. Von seinem Blickwinkel aus verfolgen wir, wie der Polizist vorsichtig den Flur betritt. Vielleicht schneiden wir um auf den Blickwinkel der Polizisten, sehen, wie er die offenstehende Tür und die Blutspur entdeckt. Er zögert. Wir schneiden zurück auf den Axtmörder und sehen, wie er hinter der Tür seine Waffe zum Schlag bereit erhebt. Wir möchten dem Polizisten am liebsten zurufen, er solle nicht das Zimmer betreten. Aber natürlich tut er es. Es kommt zum Kampf, bei dem der Polizist schwer verletzt wird, aber am Ende kann er den Mörder überwältigen.

Dreimal dieselbe Szene, aber sie wirkt dreimal vollkommen unterschiedlich auf uns.
Welche gefällt dir am besten?

Zwar ist es theoretisch möglich, für jede Szene eine andere Spannungstechnik zu verwenden, aber besser ist es, sich auf eine als Stilmittel festzulegen und diese dann durch das gesamte Manuskript durchzubehalten. Letztendlich hängt es auch von der Erzählhaltung ab, welche Spannungstechnik überhaupt möglich ist und welche sich anbietet.

In jedem Fall beeinflusst es die Atmosphäre und den Erzählstil. Deswegen macht euch doch bei eurer nächsten Geschichte einmal Gedanken: Sollen eure Leser weniger wissen als die Hauptfigur, genauso viel oder gar mehr?

Oder achtet doch einfach mal darauf, womit eure Lieblingsautoren arbeiten und ob eure Lieblingsgeschichten in Mystery, Suspense oder Dramatic Irony geschrieben sind.